Der Skandalregisseur inszeniert am Grand Théâtre de Genève Mozarts letzte Oper «La clemenza di Tito» intellektuell anregend und politisch. Die Musik wird zur Nebensache.
Alles beginnt mit dem Schluss: Der Kaiser vergibt seinem Attentäter, das Volk jubelt, und alles wäre gut im Genfer Opernhaus, kaum hat der Opernabend begonnen. Regisseur Milo Rau zieht das Ende vor, um seine These theatralisch zu untermauern und die Aufführung der Oper direkt zu ihrer Bestätigung zu machen: Kunst ist Macht, Kunst steht im Dienste der Macht – auch die Oper. Wobei das Haus natürlich so gut wie leer ist und die gestreamte und aufgezeichnete Premiere voraussichtlich die einzige Aufführung in der Genfer Oper bleiben wird (für die Co-Produzenten wie die Wiener Festwochen besteht noch Hoffnung auf Aufführungen vor Publikum).
Die Drehbühne von Anton Lukas zeigt vorne ein schickes Museum, hinten aber einen Slum, vielleicht auch ein Flüchtlingslager. Vorne werden ausgestellt: ein Ölgemälde von zwei Erhängten, ein Mann, dem das Herz herausgerissen wurde, Marat in seiner Badewanne. Hinten werden produziert: die realen Dramen, die dann gemalt und fotografiert, verarbeitet und verwertet werden. «Kunst ist Macht», verkündet zynisch ein riesiges Plakat.
Real sind auch die achtzehn Genfer Statisten vom Flüchtling aus der Türkei über den armenischen Einwanderer bis zur kongolesischen Missionarin. Sie kommen aus Schichten oder Kreisen, die normalerweise eher wenig in Opernhäusern anzutreffen sind, und bilden das «Material» für die kunstproduzierende Oberschicht: Diese malt auf der einen und singt auf einer zweiten Erzählebene. Was ist Kunst dann? Und ist nicht gerade Oper mit ihrem Aufwand unter einem solchen Blickwinkel problematisch?
Über die Unterschicht hinter der schönen Fassade gehen die Mächtigen hinweg und lassen sie einfach abknallen, wenn sie es für nötig erachten. Als Kunst stellt man sie dann aber gerne aus: Dann ist sie harmlos, und jede Gefahr ist gebannt. Und sie wird ausgenutzt, um die Macht zu unterstützen.
Die Live-Kamera holt oft Gesichter ganz nah heran, während verschiedene Aktionen ablaufen. Dazu erzählen Untertitel die realen Geschichten der Statisten wie auch der Sänger. Und als wäre das noch nicht genug, fügt Rau als Untertitel den Text eines räsonierenden Ichs ein, das den Fragen des Zusammenhangs von Kunst, Politik und Aufklärung nachgeht. Die Aufzeichnung fürs Internet hat hier dann den Vorteil, dass das Publikum beim häuslichen Streamen stoppen, zurückgehen und dann auch mehr auf die Musik hören kann.
Diese gerät durch die intellektuellen Herausforderungen auf der Bühne nämlich in Gefahr. Und zwar grundsätzlich: Weil die Psychologie der Figuren nicht mehr interessiert, verlieren die Arien ihren Daseinszweck – sie sind Kunst, die nicht mehr recht passt. Dabei gelingt es Rau und dem toll spielenden Ensemble, die oft papierenen Rezitative zum Leben zu erwecken. Bernard Richter als allmächtiger Kunstfürst Tito und Serena Farnocchia als verschmähte, zu Tode beleidigte Vitellia überzeugen trotz ein paar engen, angestrengten Tönen, während Anna Goryachova dem Attentäter und Fotografen Sesto viel Temperament gibt.
Der sehr jung wirkende und überzeugend agierende Dirigent Maxim Emelyanychev führt das Orchestre de la Suisse Romande – bald am Hammerklavier mitspielend, bald auf dem Klavierhocker kniend – zu einem rhetorisch zugespitzten, schlanken Mozartspiel. In Milo Raus These ist es nur folgerichtig, dass die Musik gerade in den Arien hinter den theoretischen Diskurs zurücktritt – und ausgenutzt wird. Tobias Gerosa